Von Max Bomm

Bordeaux Primeurs 2022

Ich bin sprachlos – so eine irre hohe Qualität, so eine große Bandbreite konzentrierter, brillanter Weine… 2022 ist eine Sensation, noch nie habe ich so einen Jahrgang verkostet.

Nachdem wir zuvor einige Tage an der Rhône verbracht haben, um dort einen grandiosen Jahrgang 2022 zu verkosten, steigen Heiner und ich nun etwas angespannt in den Mietwagen. Für mich ist es nach 2021 erst die zweite Primeur-Verkostung vor Ort, für Heiner mittlerweile das 31. Bordeaux-Jahr in seiner Karriere als Weinhändler. Und doch ist die Aufregung, die Neugier auf das, was Natur und Winzer hier im letzten Jahr vollbracht haben, bei uns beiden dieselbe. Die Kritiker waren dieses Jahr schnell, im Vorfeld hatte man schon einige Lobeshymnen gelesen. Mit einem Zitat von James Suckling im Kopf – »For me personally, it sets a new benchmark for Bordeaux after my first reference vintage for the region from barrel, 1982« – machen wir uns also voller Erwartungen auf den Weg von Aix-en-Provence nach Saint-Émilion. 

Heiner mit Denis Darriet / Château Seguin
Heiner mit Denis Darriet / Château Seguin

Angekommen und kurz eingecheckt auf Château Jean Faure, geht’s dann aber erstmal weiter an die Küste nach Cap Ferret zu Denis Darriet, um dort seinen Château Seguin zu verkosten. Und kann man beim allerersten Wein schon von einem Highlight sprechen? Ja, man muss sogar, denn auch im Nachhinein betrachtet kann man diesen Wein von großem Terroir aus Pessac-Leognan in 2022 ohne Probleme neben die bekannten großen Namen wie La Mission, Les Carmes Haut-Brion und Smith Haut Lafitte stellen. In seiner Stilistik und Feinheit kommt der 22er ziemlich nah an den 100-Punkte Goutte Rouge 2016 heran, den wir abends im Vergleich dazu hatten. Was für ein sensationeller Auftakt!

Château Seguin – 2022 ist großer, aber eher noch ein wunderschöner Stoff. Nichts, aber auch wirklich gar nichts, lässt an einen heißen, trockenen Jahrgang denken.

– Heiner Lobenberg

Erster Eindruck

Wir bleiben noch etwas am linken Ufer, denn auf Château Belgrave steht für uns dann am nächsten Tag das erste große Tasting an, präsentiert von Negociant CVBG. Eines der wichtigsten Tastings dieser Reise direkt zu Beginn – optimal, um direkt mal einen ziemlich guten Überblick zu bekommen. In perfekt organisierten Flights verkosten wir Weine beider Ufer durch. Besonders die Appellation Margaux sticht hier stark heraus. Mit Brane Cantenac haben wir einen wunderbar spielerisch-aromatischen, enorm eleganten Vertreter – der Oberliga, gemeinsam mit Malescot Saint Exupery, dicht auf den Fersen. Ebenfalls großartig zeigen sich Lascombes und Rauzan-Segla; zwar durchaus mit einer gewissen Opulenz, ohne aber ins »fette« abzudriften. Saint-Julien gefällt mir hier auch sehr gut, beispielhaft mit dem vielleicht besten Langoa Barton ever – für mich eine echte Sensation. Leoville Barton auch auf extrem hohem Niveau, der feinste der hier gezeigten Serie.

Keller von Les Carmes Haut-Brion
Keller von Les Carmes Haut-Brion

Unglaublich geschliffen, seidig und mit toller Konzentration. Beychevelle pulsiert mit burgundischer Finesse in der rotfruchtigen Ader. Aus Saint-Émilion sind es Pavie Macquin, Canon, La Gaffeliere und Berliquet, die uns hier auf Anhieb mit ihrer Eleganz beeindrucken. Insgesamt fällt auf, dass über alle Appellationen eine qualitative Homogenität herrscht. Die Weine sind balanciert, trotz hoher Konzentration und Reife bei Alkoholgehalten von bis zu 14,5 % vol. oder mehr, strahlen sie eine geniale Frische aus. Ausreißer gibt es nur wenige. Heiner selbst weiß nicht, wann er das in einer solchen Bandbreite überhaupt jemals erlebt hat.

Saint-Émilion 2022 ist, ähnlich wie Margaux am linken Ufer, eine herausragende Appellation. Die Zeit der überextrahierten Weine ist vorbei. Jetzt geht es um tänzelnde Finesse. Und das haben Pavie Macquin und La Gaffelière und da gibt es noch ein paar mehr von dieser Sorte.

– Heiner Lobenberg

100-Punkte-Hauswein?

Zurück auf Jean Faure, wo wir wie im letzten Jahr und auch schon in vielen Jahren zuvor unser Zuhause für die nächsten zwei Wochen im Bordelais haben werden. Von hier aus steuern wir Châteaus von klein bis groß, sowie die Verkostungen der Union des Grands Crus de Bordeaux (UGCB) auf beiden Ufern an. Aber zunächst zum Wein des Hauses, der erstmals im komplett neuen Keller vinifiziert wurde. Vor knapp einem Jahr wären wir hier noch in einer Lagerhalle gestanden, jetzt ist das ein State of the Art Keller, aber ohne Protz und Prunk. Betriebsleiterin Marie-Laure Latorre und Besitzer Olivier Decelle haben ein hochfunktionales und modernes Arbeitsumfeld im aufgeräumten, sehr cleanen Kleid geschaffen. In diesem heißen, trockenen Jahr merkte man hier wieder einmal, welchen Vorteil dieses Top-Terroir in Nachbarschaft zu Cheval Blanc mit sich bringt.

Heiner Lobenberg zu Gast bei Jean Faure
Heiner Lobenberg zu Gast bei Jean Faure

Der hohe Tongehalt im Boden sorgte dafür, dass das Wasser der Sommergewitter gut gehalten und nur langsam abgegeben wurde. Das Ergebnis ist ein so unglaublich elegantes, fast filigran scheinendes Meisterwerk. Das ist quasi ein Saint-Émilion von der Loire, denn die dominante Cabernet Franc in so schicker, himbeeriger Ausprägung kennt man so eigentlich eher aus Saumur. Die sechs Prozent Malbec im Blend wurden komplett mit Rappen vergoren, das gibt nochmal mehr Würze und Struktur mit. Das ist schon ziemlich nahe der Perfektion, wenn man diesen so eigenständigen Weinstil schätzt – ich jedenfalls tu das. Und ein paar Tage später werden wir mit dem gesamten Team anstoßen, denn auch Robert Parkers Bordeaux-Verkoster William Kelley bewertet Jean Faure so hoch wie nie zuvor, womit der 22er mit Größen wie Cos d’Estournel, Hosanna und L’If auf einer Stufe steht. Glückwunsch und Cheers!

Jean Faure ist ganz sicher auf dem Weg in Richtung Premier Grand Cru Classé. Es ist nur eine Frage der Zeit. 2022 ist ein phänomenaler Erfolg! Und wenn man spielerische Finesseweine liebt, verträumte, burgundische Weine, dann ist man hier genau richtig!

– Heiner Lobenberg

Highlights vom rechten Ufer

Wir bleiben am rechten Ufer, wir bleiben auch erstmal in Saint-Émilion, denn hier haben sich während der folgenden Verkostungstage noch so einige Highlights herauskristallisiert. Der Grand Vin von Château Beausejour Duffau-Lagarosse zählt mit seiner Reichhaltigkeit bei gleichzeitiger Tiefe und Spannung ganz sicher zu den ganz großen Weinen dieser Appellation, wird aber einige Jahre Flaschenreife benötigen – dann könnte das ein würdiger Nachfolger des legendären 1990ers werden, den wir am Abend verkosten. Mein Tipp: Der Zweitwein Croix de Beausejour zum Herantasten. Ebenfalls geballt und druckvoll, aber mit genialer Fruchtoffenheit und Frische, wird er früher zugänglich sein. Um Heiner zu zitieren: »Viele Château wären sehr glücklich, wenn sie so etwas als Erstwein hätten.« Nur einen Steinwurf entfernt, aber wie in einer ganz eigenen, kleinen Welt und auch stilistisch total anders, wächst Château Coutet. In 2022 gab es eine ganz große Besonderheit während der Lese: Mitte September wurde zunächst Merlot geerntet, danach wollten sie weitermachen mit Cabernet Franc, die eigentlich schon reif war.

Probe bei Beausejour Duffau
Probe bei Beausejour Duffau

Geschmacklich waren die Trauben aber noch nicht da, wo sie sein sollten. Also Lesestopp und erst Ende September ging’s weiter. Schon kurios und ein Anzeichen für die Qualitätsbesessenheit der Familie Beaulieu, die eben keine Kompromisse eingeht. Wegen der Trockenheit sind die Erträge leider verschwindend gering, gerade einmal knapp 30 Hektoliter pro Hektar wurden von diesem einzigartigen Elixier gelesen. Die ganze Geschichte rund um dieses Château, das zu den ältesten Bio-Weingütern der Welt zählt, ist so besonders, dass man hier allein ein ganzes Buch schreiben könnte. Große Châteaus sind beeindruckend, aber einmal bei Coutet vor Ort zu sein, ist eine ganz eigene, faszinierende Erfahrung.

Eine der ältesten noch erhalten Flaschen im Bordeaux liegt im Keller von Coutet
Eine der ältesten noch erhalten Flaschen im Bordeaux liegt im Keller von Coutet

Château Coutet 2022 – Die Säure in diesem Wein ist atemberaubend, wie wir sie nirgendwo sonst in Saint-Émilion haben. Das ist kein gefälliges, balanciertes Tröpfchen, sondern ein eigenwilliger, einzigartiger, rotfruchtig-konzentrierter und dichter Saint-Émilion der alten Schule. Großartig!

– Heiner Lobenberg

Zwar keine Geheimtipps, aber auch Troplong-Mondot und Figeac dürfen in dieser Reihe nicht fehlen. Ersterer besticht wie gewohnt durch eine irre Kraft, eine Dichte und Konzentration, die nachhaltig beeindruckt. Aber unbedingt lange liegen lassen! Jetzt besser nebenan ins hauseigene Restaurant »Les Belles Perdrix« und dort neben der hervorragenden Küche, die im Grunde schon auf Zweistern-Niveau ist, zu einem fairen Kurs einen gereiften Jahrgang genießen. Figeac feiert mit dem 2022er die Premiere als Grand Cru Classé A und tischt gleich mal einen Wein mit dem Potenzial einer werdenden Legende auf. Die Lese begann hier direkt am 1. September – früheste Lese bei Figeac seit Beginn der Aufzeichnungen. Und wie auch schon bei Cheval Blanc und Jean Faure zeigt sich, dass es insbesondere die Weine mit einem hohen Anteil Cabernet Franc sind, die 2022 so herausstechen. Das gibt das gewisse Etwas, den Frischekick und die Energie, um aufzufallen in dieser insgesamt einfach extrem hohen, aber homogenen Jahrgangsqualität.

Château Figeac
Château Figeac

Château Figeac 2022 – Ein großer Wein, wahrscheinlich der beste Figeac, den ich hier je probiert habe.

– Heiner Lobenberg

In Pomerol sticht für mich in diesem Jahr ganz besonders La Conseillante heraus. Der Wein hat einfach eine irre Komplexität, kommt zunächst als Schmeichler mit tiefer, süßer Frucht daher, dann reißt es einen aber plötzlich aus der Kurve mit so dramatischer, vibrierender Frische. Ich habe keinen anderen Pomerol verkostet, der so ultrapikant, mineralisch und lang ist. Einfach genial! Auch Clinet und Vieux Château Certan (VCC) schaffen diesen Spagat aus fester Substanz und spielerisch-leichter Finesse. Für mich auf ähnlichem Niveau. Vom gleichen Winzer wie VCC stammt Château Guillot Clauzel, und das schmeckt man auch. Die Ähnlichkeit ist unverkennbar, und das zu einem bedeutend niedrigeren Preis. In meinen Augen ist das eine echte Alternative, die ich mir höchstwahrscheinlich selbst in den Keller legen werde. Parker-Verkoster William Kelley bezeichnet den 2022er als »The best wine that Guillaume Thienpont has produced to date at this small estate«. Um das zu beurteilen zu können, fehlt mir natürlich die Erfahrung, aber das ist schon verdammt guter Stoff.

UGCB Verkostung auf Château Beauregard
UGCB Verkostung auf Château Beauregard

Neben Château La Croix, der erneut zu den allerfeinsten Pomerol des Jahrgangs zählt und den eine hinreißend elegante, rotfruchtige Ader durchzieht, sollte auch Beauregard nicht unerwähnt bleiben, der so unglaublich burgundisch daherkommt. Um Heiner zu zitieren: »2022 ist DAS Jahr für dieses Château, diesen Biodynamiker mit besonderem Terroir. Ultrafein die Nase – totaler Schick!«.

Das rechte Ufer hat 2022 einfach unglaublich performt.

– Heiner Lobenberg

Rechtes Ufer: Best-Buys und Neuheiten

Neben den bekannten großen Namen gibt es natürlich auch immer wieder einige Best-Buys, die, wenn man mal ganz rational die Produktqualität betrachtet, ein fast übernatürliches Weinerlebnis für ihren Preis bieten. Besonders die östlich von Saint-Émilion gelegene Côtes de Castillon hat sich in den letzten Jahren zum absoluten Hot Spot entwickelt. Clos Louie ist hier auch 2022 wieder Primus. Ein großer, aber so unfassbar eleganter Wein. »Das ist sicherlich einer der Höhepunkte auf meiner diesjährigen Bordeaux-Reise«, sagt Heiner. Und das kann ich auch für mich nur so unterschreiben. Château Robin, Stéphane Derenoncourts Domaine de L'A, Moulin Haut Laroque in Fronsac, sowie die letztjährige Neuentdeckung Domaine Baudon in der benachbarten Montage gehören für mich mit in diese Liste der »kleinen Stars« am rechten Ufer. Sehr spannend ist auch das erst kürzlich von Jean-Philipp Janoueix erworbene Château de Monbadon. Ein uraltes Anwesen und Weingut, wunderschön gelegen auf dem höchsten Plateau von Castillon.

Heiner zu Gast bei Baudon
Heiner zu Gast bei Baudon

Château de Monbadon 2022 – Ein opulenter Castillon, der von der Ausprägung der Finesse eher bei Clos Puy Arnaud und Clos Louie steht. Aber er hat im Mund durchaus auch die Reichhaltigkeit eines Domaine de L’A. Irgendwo dazwischen bewegt er sich auch.

– Heiner Lobenberg

Die linke Seite der Macht

Schon direkt zu Beginn der Reise fiel auf, dass es die Appellation Margaux besonders gut getroffen hat im Jahr 2022. Und ja, das bestätigt sich auch hier vor Ort auf den Châteaus. In der Spitze, namentlich Château Margaux, hatte man jedoch eine der kleinsten Ernten überhaupt zu verzeichnen. Nochmal rund 30 Prozent weniger Ertrag als im kleinen Vorjahr. Die Trockenheit war hier extrem, die Saftausbeute aus den daraus resultierend kleinen Beeren einfach zu gering. Umso überraschender ist es, mit welcher Frische sich Château Margaux bei dieser hohen Tanninkonzentration präsentiert! Unglaubliche Power, Druck und salzige Länge. Aber auch schon der Zweitwein Pavillon ist eine Sensation, ebenso der Weißwein Pavillon Blanc. Palmer ist etwas feiner, geschliffener und gefällt mir persönlich sogar etwas besser noch.

Palmer ist großer Stoff und völlig anders als Château Margaux. Grandios – zwei Weine der gleichen Klasse, zwei mal glatte 100 in einer Appellation und in direkter Nachbarschaft!

– Heiner Lobenberg

Château D’Issan ist hervorzuheben in seiner verblüffenden Ähnlichkeit zu Palmer. Mit Château Ferriere und La Gurgue zeigt Biodyn-Koryphäe Claire Villars-Lurton zwei wunderschöne, bezahlbarere Beispiele dieser Appellation, die insbesondere durch ihre wunderbare Balance bestechen. Wenn wir schon bei bezahlbar sind, dürfen natürlich auch Best-Buys vom linken Ufer nicht fehlen. Allen voran ist auch 2022 wieder Clos Manou der Star im Medoc, wenn es um maximale Qualität zu einem wirklich unschlagbaren Preis geht. Ein archetypischer, dichter Wein vom linken Ufer, der in seiner Stilistik blind immer als deutlich teurerer Pauillac durchgehen würde. Doyac dagegen wirkt etwas feiner, ist nicht ganz so kraftvoll, besticht dafür mit floraler Filigranität und süß-saurer, roter Frucht. Was man hier am Ende vorzieht, ist einfach nur Geschmacksache. Auf einem hohen Qualitätslevel sind beide, gemeinsam mit Carmenere, allemal.

Probe bei Clos Manou
Probe bei Clos Manou

Clos Manou 2022 – Für mich ist es unverständlich, dass ein Wein in diesem Preisbereich eine so hohe Klasse aufweisen kann. Für mich ist das deshalb im Preis-Qualitäts-Verhältnis der Wine of the Vintage, weil er so grandios ist für so kleines Geld.

– Heiner Lobenberg

Im Haut Medoc finden wir 2022 auch extrem gute Weißweine für verhältnismäßig kleines Geld. Sie hier zu erwähnen ist eigentlich quatsch, sie sind ohnehin immer zu schnell aus. Aber ich kann nicht anders, denn Du Retout Blanc, sowie der Doyacs Pelican sind einfach grandios. Eine neue Entdeckung – zwar kein sehr günstiger Wein, ist er doch deutlich teurer als die zuvor genannten, aber immer noch deutlich preiswerter als seine berühmten Nachbarn – ist Château Chantecler in Pauillac. Gerade mal etwas über einen Hektar Weinberg, umrahmt von Mouton-Rothschild, Lafite und Pontet Canet. Dieses Terroir kommt hier dann auch sehr deutlich im Wein heraus, der final im Charakter dann wohl doch relativ nah an Lafite ist. Ein spannendes Projekt vom wohl teuersten Fleckchen Erde des Medocs, was man definitiv weiter im Auge behalten sollte. 

Verkostung auf Château Lafite Rothschild
Verkostung auf Château Lafite Rothschild

Bei den großen Namen sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sowohl Lafite, als auch Pontet Canet und Mouton in 2022 auffallend floral gezeichnet sind. Extrem fein, Mouton sogar fast ungewöhnlich fein. Hier ist der Anteil an Cabernet Sauvignon wieder deutlich höher als im Vorjahr, der Wein wirkt dadurch so tänzelnd schick, das hätte man von einem so warmen Jahrgang gar nicht erwartet. Ich hätte hier doch mit mehr Fett gerechnet, aber das ist genial in dieser hohen Frische, die in dieser Ausprägung sogar ein wenig an Pichon Comtesse erinnert. 2022 ist ein großartiges Finesse-Jahr in Pauillac. 

Schöne Länge und grandiose Balance! Die beiden Pichons haben ein herausragendes Jahr erwischt. Zusammen mit dem ebenfalls großen Lynch-Bages, sind sie sicherlich die ersten Verfolger der Premier Crus – wenn sie nicht gar auf gleichem Level sind.

– Heiner Lobenberg

Was Saint-Estèphe betrifft – alles, was man über Montrose liest, können wir nur unterschreiben. Das ist wirklich ein Ereignis der Finesse, selbst der Zweitwein La Dame haut einen schon vom Hocker. Aber keinesfalls durch Wucht, sondern einfach weil es so ein wunderschöner, perfekt gezeichneter Wein ist. Die Balance ist beinahe unglaublich, das Tannin so poliert, die ausdrucksstarke Frucht wird von floralen Akzenten gespickt. Erst- und Zweitwein sind sich dabei enorm ähnlich, nur natürlich hat der Grand Vin am Ende doch die größere Tiefe und Spannung. Ich komme aus dem Schwärmen beinahe nicht mehr raus, deswegen lasse ich an dieser Stelle einfach Heiners Zitat stehen: »Er hat alles, was ein ultrafeiner, hochklassiger Wein braucht«. Cos d’Estournel ist ganz anders, dichter, üppiger, aber auch eigentlich perfekt so in dieser Form. Kommt für mich an zweiter Stelle nach Montrose. 

Zu Gast bei Phelan Segur
Zu Gast bei Phelan Segur

Mit Château Domeyne haben wir eine weitere Entdeckung gemacht. Der Besitzer ist Vincent Ginestet, die dritte Generation der früheren Eigentümer von Château Margaux. Domeyne hat er 2017 von Claire und Gonzague Lurton gekauft, die Besitzer von Ferrière und Haut Bages-Libéral sind. Das Weingut liegt exakt zwischen Phélan-Ségur und Calon-Ségur. Stilistisch sind wir im 22er eher bei Calon als bei Phélan, also mehr auf der schwarzen Frucht, aber sehr poliert und super elegant. Ganz große Klasse und vor allem preislich auch eine Alternative zu den beiden Nachbarn.

Fazit zu 2022: Großartige Balance mit Finesse, fernab von 2003

Liest man vom trockensten Sommer in Frankreich seit Beginn der Aufzeichnungen, klingeln natürlich zunächst die Alarmglocken – das könnte fette Weine in breiter Masse bedeuten, die im schlimmsten Fall überextrahiert und von gekochter Frucht geprägt sein könnten. Aber nach zwei Wochen mit rund 500 verkosteten Weinen aller Appellationen, fahren wir voller Euphorie und mit mehr als einem Lächeln auf den Lippen nach Hause. Klar sind viele Weine strukturiert, teilweise auch höher im Alkohol als im vergangenen Jahr 2021. Aber 2022 ist für die Superstars jeder Appellation ein so noch nie dagewesener Qualitätstraum, selbst in der Basis findet man schon immens gute Weine.

Heiner Lobenberg und Thomas Hervé von Moulin Haut-Laroque
Heiner Lobenberg und Thomas Hervé von Moulin Haut-Laroque

Das ist natürlich großartig, gleichzeitig aber das kleine »Luxusproblem« dieses Jahrgangs – die Weine sind teilweise einfach zu gut in ihrer homogenen, hohen Qualität. Das wird mir erst im Gespräch mit Pierre-Olivier Clouet, Winemaker bei Cheval Blanc, so richtig bewusst. Er sagt 2022 war nämlich vorrangig ein Jahrgang der Natur und nicht des Winzers. Im Prinzip haben die Reben alles gemacht, sich dem Wetter langsam angepasst. Das Resultat sieht dann für alle Preisgruppen und Weinarten ähnlich aus – homogene, balancierte Weine. Die echten großen Highlights haben darüber hinaus alle das gewisse etwas, nur sehr gut zu sein reicht da eben nicht aus, um sich von der Masse abzuheben. Top-Weine in 2022 haben diese Struktur, diese Dichte und aromatische Konzentration, aber das Ganze ist mit guter Frische, Biss und Finesse unterlegt. Deshalb ist und bleibt 2022 schon ein herausragendes, allen voran balanciertes, aber teilweise auch richtig aufregendes Jahr.

Max Bomm

Max Bomm

Max ist ein Weinenthusiast und Genussmensch. Aus der Liebe zum Wein entschied er sich für das Studium der internationalen Weinwirtschaft an der HS Geisenheim. Nun ist er seit Herbst 2021 Teil unseres Winescout-Teams. Er ist immer auf der Suche nach spannenden Weinen, die seinen Horizont erweitern.

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