VON ELIAS SCHLICHTING

Der Jahrgangsbericht 2020

Christmann

Es ist Licht am Ende des Weinkellers.

Das Jahr 2020 war ein tiefgreifender Einschnitt für uns alle. Gefühlt von heute auf morgen war die Welt eine andere. Nur die Reben, die interessierte das herzlich wenig. Dabei mussten ihre Besitzer sich bereits früh im Jahr bemühen, um unter Corona überhaupt genug Arbeitskräfte zusammenzutrommeln und damit der erneut turbomäßig startenden Vegetationsperiode mit erschwerten Bedingungen gerecht zu werden. 

Wir erinnern uns an die überraschend hitzigen Frühlingstemperaturen während des ersten Lockdowns von Ende März bis Anfang April, die einen erneut sehr frühen Austrieb begleiteten. Der darauffolgende Sommer schloss mit warm-heißen, weitgehend trockenen Bedingungen an die mittlerweile gewohnten Witterungsverläufe der letzten Jahre an. 2020 ist – in Sonnenstunden und Durchschnittstemperaturen gemessen – erneut eines der wärmsten Jahre des neuen Jahrtausends und damit überhaupt. Hitzespitzen gab es aber nur vereinzelt und nicht in der Intensität wie es 2018 und 2019 teilweise der Fall war. Insgesamt war die Witterung vielleicht ein bisschen moderater als in den Vorjahren – eine Charakteristik, die die Weine in ihrer wunderbaren Balance auch widerspiegeln. 

Steintal
Fantastischer Weitblick beim Weingut Steintal

Ohnehin ist es viel mehr die Trockenheit als die Hitze, die den Reben wirklich zu schaffen macht. Sie ist gewissermaßen Fluch und Segen zugleich. Denn sie bringt eine superbe Traubengesundheit und kleine, dickschalige Beeren mit sich, was erstmal hervorragend ist. Nach drei Trockenjahren in Folge, ist Trockenstress jedoch ein prominentes Thema. Vor allem die Junganlagen kamen an vielen Standorten ohne zusätzliche Bewässerung kaum noch aus. Ältere Reben, wie sie in die meisten Crus und Top-Weine einfließen, stemmten die Situation deutlich besser. Nicht nur wegen ihres tieferverzweigten Wurzelwerks, sondern vor allem auch wegen ihrer von Natur aus geringeren Erträge. Weniger Trauben, weniger Wasserbedarf, harmonischere Ausreifung. 

Das ist ganz entscheidend, um die Weine aus 2020 in ihrer verblüffend eleganten Art zu verstehen.

Trotz, oder besser gesagt wegen der trocken-heißen Witterung schritt die Traubenreife bis zum Spätsommer mit badischer Gemütlichkeit voran – und das nicht nur in Baden, sondern regionsübergreifend. Während wir uns in den sommerlich gut gefüllten Cafés und Restaurants der Innenstädte bereits der Illusion hingeben wollten, dass die Pandemie ja schon passé sei, passierte in den Weinbergen derzeit nicht allzu viel. Die Reben schalteten vom Reifemodus in den Ruhemodus, um mit der Wasserknappheit hauszuhalten. Das ist ganz entscheidend, um die Weine aus 2020 in ihrer verblüffend eleganten Art zu verstehen. 

JB Becker
Zu Besuch bei J.B. Becker

Es sind vor allem die eher gemäßigten, bis zum Schluss erstaunlich moderat gebliebenen Oechslegrade, die durch Ermangelung von Wasser und weiterer Photosynthese eben nicht durch die Decke schossen. In diesem Zuge wurden dann auch wieder erfrischend niedrige pH-Werte geerntet, die sowohl für eine sofortige, immanente Frische als auch zumeist eine lineare, zukunftsweisende Entwicklung verspricht. Niedrige pH-Werte sind definitiv näher am Schlüssel zum ewigen Weinleben als analytisch hohe Säurewerte, die sich in der empirischen Realität doch oft vernachlässigbar zeigen. Es ist ein Paradox mancher heiß-trockener Jahre, dass die pH-Werte unabhängig von den analytischen Säurewerten tief bleiben. Und gerade auch dieser Umstand hat sehr viel zur verblüffenden Feinheit und begeisternd schlank gezeichneten Textur der 2020er Weine beigetragen, wie es 2019 und 2018 schon ganz ähnlich war.

Dort wurde – wie schon in den Vorjahren – weitestgehend recht zügig und pointiert gelesen.

Hier und da erfrischten schon einige Regenschauer die Reben, trieben die Reife moderat voran und kühlten die Gemüter der Winzer. Allerdings nicht überall, was einer der Gründe für die mancherorts etwas durchwachsenere Qualität der Weine ist. Gerade Teile der Saar hatten mit langanhaltender Trockenheit zu kämpfen, wohingegen die Mosel doch etwas mehr Wasser abbekam. Dank abkühlender Nächte und bis dato moderater Reifegrade fand die Ernte zwar wieder früh, aber doch nicht ganz so extrem früh wie befürchtet, statt. Meist etwas später als 2018, mit den Daten der Hauptlesen gar nicht unähnlich zu 2019, das ja von kühleren Herbsttemperaturen geprägt war. 

Breuer
Kollektion bei Theresa Breuer

Für Mosel, Saar und Ruwer, Mittelrhein und Rheingau brachte ein Witterungsumschwung zum Herbst dann auch einigen ersehnten Regen, wenngleich etwas spät, was zu einer ausgedehnten Stop-and-go-Lese führte, die sich hier nicht selten über viele Wochen hinzog. Zu diesem Zeitpunkt waren die allermeisten Trauben der Top-Lagen von Nahe und Rheinhessen, Pfalz, Franken und Baden bereits im Kasten, denn dort wurde – wie schon in den Vorjahren – weitestgehend recht zügig und pointiert gelesen. Das Ergebnis war topgesundes, reintöniges Lesegut, was sich Eins zu Eins in einer kristallinen Klarheit und strahlenden Frucht der Weine zeigt. An Mosel, Saar und Ruwer musste regenbedingt etwas mehr sortiert und ausgelesen werden. Das ist auf dem Topniveau unserer Winzer aber ohnehin Usus, also im Westen nichts Neues.

Atemberaubend!

Bischel
Stimmung beim Weingut Bischel

Denken wir an die deutschen Jahrgänge, die sich zumeist am linearsten, klarsten und nicht selten am schönsten entwickeln. Ich werfe mal unter anderem 2001, 2002, 2004, 2008, 2012, 2016 in den Ring, die wir nun mit einer relativen Distanz beurteilen können. Allesamt witterungsbedingt sehr unterschiedlich. Mal trockener oder verregneter, gesünder oder mit mehr Pilzdruck, kühler oder wärmer, mit früherer oder späterer Lese, höheren oder niedrigeren Erträgen – eins einte sie alle: moderate Reifegrade. Moderat. Schon das Wort klingt irgendwie lahm. Moderat haut halt erst mal keinen vom Hocker. Atemberaubend ist moderat jedenfalls selten… aber nur auf den ersten Schluck. Auf den zweiten und dritten Schluck, wenn dann mal ein paar Jährchen ins Land gezogen sind, ist moderat dann oft genau das: atemberaubend. 

Mit trinkfreudigem Drang, bloß etwas weniger Sturm als 2019. Pianissimo. Ich persönlich schätze das ja sehr.

Jedoch, in Sachen Balance, Finesse und Stringenz, könnten die besten 2020er für mich nicht wenige Weine der Vorjahre sogar übertreffen. Es würde mich nicht im Geringsten überraschen, wenn die 20er eine harmonischere und langlebigere Entwicklung nehmen als viele der vorangegangenen Jahre. Wenn 2018 Love & Peace ist, alles lieb und schön, ist 2019 pikant-eleganter Sturm und Drang. 2020 steht irgendwo zwischen den beiden. Aber stilistisch klar eher zu 2019 tendierend, mit trinkfreudigem Drang, bloß etwas weniger Sturm. Pianissimo. Ich persönlich schätze das ja sehr. Es ist erfreulich und ergreifend, dass das Pandemie-Jahr 2020 mit diesem wunderbar eleganten Wein-Jahrgang einen bezaubernden Silberstreifen am Horizont erfahren hat. Es ist Licht am Ende des Weinkellers.

Saalwächter
Carsten Saalwächter in seinem Element
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Legendärer Erfolg

Große Gewächse

Die Großen Gewächse des Verbandes der Prädikatsweingüter sind einer der größten Erfolge der jüngeren deutschen Weingeschichte. Von Mainz bis Manhatten weiß jeder Liebhaber und Kenner deutscher Weine, dass er mit den so bezeichneten Gewächsen die besten trockenen Weine des VDP und viele der allerbesten Weine Deutschlands bekommt. Die heute so renommierte Geschichte nahm ihren langen Anlauf tatsächlich schon Mitte der 1980er-Jahre.

In der Hochburg des Rheinweins, dem Rheingau, reifte dank einiger Qualitätsvorreiter - darunter Koryphäen wie Georg Breuer und Graf Matuschka von Greiffenclau (Schloss Vollrads) - der Gedanke des Terroir-Weines nach französischem Vorbild. Jedes Jahr erzeugten die teilnehmenden Winzer einen besonderen, geschmacklich trockenen Wein, der seine Herkunft deutlich repräsentieren sollte. Diese Weine firmierten seit den 1990er-Jahren unter dem Label »Charta«. Deren Qualität und Machart sorgte rasch für überregionale Beachtung. Ein schon an der Flasche und Aufmachung erkennbares Gewächs von herausragender Güte, das seine Herkunft und die Lage geschmacklich repräsentiert. Genau das war die Idee, die sich auch im Bundes-VDP in den folgenden Jahren zunehmend etablierte.

Die Idee des Terroir-Weines – losgelöst von Oechslegraden und der Prädikatswein-Einstufung des Weingesetzes von 1971 – kam somit auch in Deutschland an.

Nach diesem Vorbild floss aus der Feder der VDP-Mitglieder kurz nach der Jahrtausendwende eine einheitliche Firmierung trockener Spitzenweine aus Einzellagen. Auf der Basis einer verbandsinternen Weinbergsklassifikation, die auf historischer und aktueller Bewertung basiert, unterscheiden die VDP-Weingüter seither zwischen Guts- und Ortsweinen, klassifizierten Lagenweinen sowie Ersten bzw. Großen Gewächsen. Eine Dekade später, im Jahr 2012, wird die heute bekannte vierstufige Qualitätspyramide in den Statuten als Leitklassifizierung für alle Landesverbände innerhalb des VDP festgesetzt. Das Große Gewächs ist der beste trockene Wein aus einer klassifizierten Großen Lage. Fortan darf kein weiterer trockener Wein die Bezeichnung der Lage tragen, wenn es daraus ein Großes Gewächs gibt. Neben dem »GG« soll es keine weiteren Götter innerhalb der Sortimente geben, die Spitze ist somit klar definiert und unangefochten. Die deutschen Grands Crus sind geboren.

Natürlich ist der Riesling als Aushängeschild des deutschen Weines und König der weißen Rebsorten mit Abstand die am meisten genutzte Sorte für die weißen Großen Gewächse des VDP. Viel bemerkenswerter ist allerdings, dass sich im Rotwein-Bereich der Deutschland mit dem Spätburgunder im Zeichen des Klimawandels anschickt, neben dem Burgund und Neuseeland als weltweit wichtigste Herkunft für roten Cool Climate Burgunder zu gelten. Auch hier hat die Kategorie der Großen Gewächse für rasche internationale Anerkennung und ein einfacheres Verständnis deutscher Weinbezeichnung geführt. Spätburgunder Große Gewächse stehen heute sogar preislich – zumindest teilweise – nicht mehr allzu weit hinter den Preisführern der luxuriös kostspieligen Bourgogne zurück. Für die allerbesten der deutschen Spätburgunder-Gewächse wird der Grand-Cru-Anspruch fraglos auch im Markt reflektiert. Die deutsche Qualitätsoffensive ist auch beim Rotwein ungebremst on the run. Der Traubenadler des VDP segelt dabei weiterhin munter in den warmen Aufwinden des Klimawandels, der die deutschen Weinbaugebiete vom nördlichen Rand immer weiter ins Herz des Spätburgunder-Anbaus manövriert.

Die deutsche Qualitätsoffensive ist auch beim Rotwein ungebremst on the run.

Weniger überraschend sind die Großen Gewächse aus der deutschen Leitrebsorte, dem Riesling, aber fraglos noch erfolgreicher. Keine andere weiße Rebsorte der Welt ist so vielseitig: Von knockentrocken wie viele Großen Gewächse bis hin zur Trockenbeerenauslese - Riesling kann einfach alles und zählt dabei in jeder Kategorie mit zum Feinsten, was die Weinwelt zu bieten hat. Selbst die stolzen Winzer Frankreichs, ihres Zeichens geistige Begründer der Terroir-Philosophie, erkennen neidlos an, dass Riesling den Charakter und die Typizität verschiedener Böden und Lagen zum Ausdruck bringen kann wie nur sehr wenige andere Rebsorten der Welt. Kein Wunder also, dass Riesling als einzige Sorte in jedem deutschen Anbaugebiet für die Erzeugung Großer Gewächse zugelassen ist. Große Tradition hat er ohnehin überall in Deutschland. Vor allem aber an Mosel, Rhein und Nahe, wo ausschließlich Riesling und in letzteren beiden auch noch Spätburgunder für das Keltern Großer Gewächse zulässig ist. Eine Fokussierung, die den Gewächsen der deutschen Weinwelt spürbar guttut und in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gerne noch weiter voranschreiten soll. Denn Terroir-Ausdruck kann mitunter auch Verzicht durch Pointierung bedeuten, wie ein Blick nach Frankreich und Italien eindeutig zeigt.

Kein Wunder also, dass Riesling als einzige Sorte in jedem deutschen Anbaugebiet für die Erzeugung Großer Gewächse zugelassen ist.

Ob man nun den geistigen Beginn der Bestrebungen in den 1980ern, die Konsolidierung des Ganzen in den frühen 2000ern oder die Konkretisierung im Jahr 2012 als Startpunkt sieht, spielt eigentlich keine entscheidende Rolle. Was wirklich zählt, ist dies: Deutscher Wein hat mit dem Riesling, dem Silvaner, dem Spätburgunder und den anderen aufstrebenden Burgundersorten den Sprung mit an die Spitze der Fine-Wine-Welt geschafft. Und die Großen Gewächse haben hierzu ihren fairen Beitrag geleistet. Alleine schon dadurch, dass sie klar definieren, was deutschen Winzern bezeichnungsmäßig in der Vergangenheit oft schwer-fiel: Wo GG draufsteht, steckt der beste trockene Wein aus dieser Lage drin – ganz einfach.

Das Große Gewächs ist der Kickstarter für deutschen Wein mit anerkanntem Grand-Cru-Niveau auf der Weltbühne, so viel hat der VDP damit bisher schon erreicht. Der Rest ist die Erfolgsgeschichte unserer herausragenden Winzertalente, die diese Kategorie mit ihren Spitzenweinen gebührend aufblühen lassen. Durch weiterhin klare Vorgaben an Reifegrade, Ertragsbeschränkungen und Zuckergehalte, aber eben auch die eindeutige Bindung an die Herkunft aus fest umrissener Lage ist es quasi die Vermischung romanischer und deutscher Weinbautradition - best of both worlds!

Das Große Gewächs ist national und weltweit ein großer – mehr noch! – ein riesiger Erfolg.