Lobenberg: Der Wein wächst zu 100 Prozent im Pettenthal. Er besteht aus den Jahrgängen 2016 bis 2023, dabei sind aber die Jahrgänge 17, 18 und 20 quasi der Akkord, der maßgeblich den Kern des Weines darstellt, über dem Grundtenor, den 2016, 2021, 2022 und 2023 darstellen. Jeder Release wird aus einer anderen Zusammensetzung bestehen, je nachdem wie die unterschiedlichen Fässer, also Jahrgänge, sich zum Zeitpunkt der Cuveetierung gerade zeigen. Es ist ein lebendiger Wein, ein trinkbarer Zeitstrahl, der sich permanent selbst neu erfindet und zusammensetzt. Es ist eine auf dem Papier sehr verrückte Idee, die aber gar nicht so schräg schmeckt, wie man zunächst erwarten würde. Mit dem ersten Release hat Kai Schätzel es geschafft, den goldenen Punkt aus Wildheit und Harmonie zu treffen. Und dennoch muss man nach mehrstündiger Verkostung sagen: was für ein abgefahrener Wein! Er changiert wie ein Chamäleon, ist ein Wandler zwischen den Welten. Er hat wenig mit stinkigen Naturweinen gemein, eigentlich gar nichts, dennoch bewegt er sich in diesem Spektrum, aber auf eine völlig eigene Art. Er hat zudem Elemente von Schätzels Großen Gewächsen aus dem Pettenthal, die in den letzten Jahren grandios wie eh und je waren, vor allem 2020. Dieser Reh mischt irgendwo zwischen beiden Welten mit, gehört weder der einen noch der anderen komplett an und ist damit eine ganz eigene Kategorie Wein, die in dieser Form in Deutschland wohl noch nie jemand erzeugt hat, zumindest nicht in dieser Klasse. Dieser Wein zieht mich sofort in seinen Bann, genau wie es seinerzeit das 2020er Pettenthal GG, das hier ja auch mit drin ist, getan hat. Reh bezieht sich auf Rehbach, eine alte Gewann im Pettenthal. In diesem Wein gehen aber nicht nur mehrere Jahrgänge, alles GG-Material, sondern auch die verschiedenen Expositionen dieser Weltklasse-Lage ein. Kai verfügt in dieser Steillage sowohl über Süd- als auch Nord-Expositionen. Er kann die volle Klaviatur von goldgelben bis knackig-grünen Trauben spielen. Und diese wahnwitzige Komplexität spiegelt sich Eins zu Eins in diesem faszinierenden Stoff. Es ist einerseits die Wiedergeburt des Querkopfes Kai Schätzel andererseits viel harmonischer und weniger wild, als man vermuten würde. Der Blend passt schon ziemlich fein zusammen. Im Duft eine kaleidoskopartige Vielschichtigkeit, die immer neue Richtungen einschlägt und doch stets ruhig bleibt. Er startet auch zunächst ruhig und kühl, eher steinig, nussig und kräuterig, um dann immer mehr den Frucht-Turbo zu zünden mit Kumquat, Mandarine und Grapefruit. Also warme Agrumen mit feiner Säurespur, alles fest in sich verwoben und doch mit dieser inneren Ruhe und einer entspannten Trinkreife ausgestattet, wie man sie von PJ Kühn oder dem Nikolaihof kennt. Dann geht es eher in eine Tee-Aromatik über, feiner Darjeeling und etwas erdiges Schwarzbrot. Plötzlich schießen Eukalyptus und Bergminze mit einer Vehemenz darüber, dass man nur staunen kann. Auch autolytische Hefe-Noten von warmem Brioche. Man kann sich stundenlang mit diesem Wein beschäftigen und wird immer etwas Neues entdecken. Es ist ein Auszug in unbekannte Gefilde und eine Ankunft zugleich, indem alles zusammenkommt, für das sich Kai Schätzel in den letzten Jahren eingesetzt hat und mit dem er experimentiert hat. Die vielen kleinen Puzzleteile in seinem Keller, oxidativere Weine, reduktivere Weine, Florhefe-Aromatik, extrem schlanke Weine und opulent reife Weine – nun findet alles seinen finalen Platz in diesem grandiosen Stoff. Es ist einerseits Freakstoff, andererseits ein Wein, der niemanden wahnsinnig schockt, wenn man die Geschichte dahinter nicht kennt. Schätzel ist angekommen – und dennoch weiterhin der mutigste Winzer Rheinhessens.