Lobenberg: Man kann Bücher über diesen Wein schreiben, der ganz unumstritten seit Jahrzehnten zu den besten Weinen Deutschlands zählt und 2023 vielleicht sogar die Krone für den größten Riesling bekommen sollte. Immer rar, immer schnell weg, aber völlig nachvollziehbar warum, wenn man einmal die Chance hatte ihn zu verkosten. Bürklins Kirchenstück ist kein Hype-Wein zum spekulieren, sondern eine absolute Ikone aus einer der historisch bedeutendsten und gleichzeitig teuersten Lagen. Deshalb nennt man es auch den »deutschen Montrachet«. Nicht weit hergeholt, denn die Weine haben einen ähnlichen Ruf und meist eine vergleichbare, unnahbare Erhabenheit. In Sachen Power und Tiefe können sich das Kirchenstück und der direkte Nachbar Pechstein messen, aber Bürklins Grand Cru aus dieser Lage zeigt zugleich auch die unendliche Feinheit und Erhabenheit, wie kaum ein anderer Riesling überhaupt. Pechstein ist wilder, aufgeregter. Das Kirchenstück tief und ruhig, wie ein See, der nicht tief blicken lässt. Aber man erahnt, dass dort unten etwas schlummert. Die Lage ist schon aufgrund des Terroirs multikomplex aufgestellt: Vulkangestein, Basalt, Buntsandstein – alles ist vereint in dieser Großen Lage. Eleganz, Kraft und Tiefe. Komplett im großen Holz spontan vergoren, dann sehr lange und unberührt auf der Hefe ausgebaut. Ultra erhabene Nase. Kühl und brillant. Feuerstein mit ganz klarer Kalksteinkante. Diese extreme Steinigkeit verbindet sich mit total feinen, hellen Noten von weißem Pfirsich und dezenter Zitrusschalenaromatik. Eine gewisse Herbheit von Quitte kommt dazu. Überhaupt nicht laut oder aufgeregt, sondern einfach nur so unglaublich fein! Die Nase ist für mich auf dem Niveau eines großen Burgunders in dieser Ruhe, so ausgeglichen, aber gleichzeitig kraftvoll. Gebändigte Kraft. Im Mund brilliert die reife Säure, schiebt in kristalliner Feinheit, klar und doch zupackend über den Gaumen. Die mineralische Ader zieht sich wie ein Band aus Kalkstein durch den Wein, alles ist fest, dicht strukturiert in dieser kraftvollen Eleganz. Wie Kreide auf der Zunge, dazu Zitronenmelisse, Bergamotte und weißer Pfirsich. Aber die Frucht bleibt dezent, spielt keine große Rolle. Der Wein haftet am Gaumen, lässt nicht los, auch noch nach Minuten immer wieder schmeckbar. Wie so häufig ist das Kirchenstück in einer ganz eigenen Dimension unterwegs. Während Pechstein den Trinker beinahe anspringt, beschleicht das Kirchenstück ihn eher. Aber wenn es sich dann mal vollends erschließt, gibt es vielleicht keinen größeren Riesling in Deutschland. Beeindruckend, berührend.
Der Winter 2022 auf 2023 brachte endlich, wovon wir in den letzten Jahren oft zu wenig hatten: Niederschlag. Dank Regen satt, waren die Wasserreserven nach dem viel zu trockenen 2022 endlich wieder gut gefüllt, was den Reben einen vitalen Start ins Frühjahr eröffnete. Nahezu keine Frostschäden und paradiesisches Wetter begleiteten eine tolle Austriebs- und Blütezeit, die die Winzerherzen höherschlagen ließ. Es folgte, woran wir uns – mit Ausnahme von 2021 – bereits gewöhnt haben: ein heißer und (zu) trockener Sommer. An den kargsten Standorten gab es wie im Vorjahr etwas Trockenstress. Die älteren Reben kamen aber aufgrund der satten Winterniederschläge glimpflich und sehr gesund durch den provençalischen Frühsommer. Nichtsdestotrotz hätte 2023 eine mittlere Katastrophe werden können, wenn die Trockenheit bis zur Lese so durchgepowert hätte, doch ausgerechnet der sonnenverwöhnte August brachte die Kehrtwende auf den Hacken, denn es war der regenreichste August seit langem. Ab Anfang/Mitte September – gerade recht zur Lesezeit – machte das Wetter vielerorts erneut eine Kehrtwende und schwenkte zurück zu sonnig-warmen, trockenen Verhältnissen. Die bereits kühleren Nächte ermöglichten eine hocharomatische Ausreifung, die 2023 diese gewaltige Fruchtstärke und kühle Brillanz beschert hat. Tatsächlich sahen die Trauben mancherorts aus wie von einem anderen Stern: goldgelb, hochreif und voll praller Energie und Saft. Ob 2023 wirklich DAS Jahr der Jahre ist, steht natürlich noch in den Sternen, aber die Vorzeichen sind mehr als grandios… es ist aus mehreren Gründen der faszinierendste Jahrgang der letzten Jahre. Kein Jahr zuvor war in der Vegetationsperiode so »sonnig« UND so »nass« zugleich. Also doch kein reines (Wein-)Wunder, dass 2023 diese wundervolle geschmackliche Mischung zwischen den aromatisch-dichten 2018ern und 2019ern, sowie den rassig-kühlen 2012ern und 2013ern ist. Warme, satte Agrumenfrucht ohne Ende, von Grapefruit bis Quitte ist alles dabei – und darunterliegend immer wieder dieser mitreißende Speichelturbo. Die Weine haben mehr Dichte als in 2020, eine höhere Reife als in 2021 und mehr Geschmeidigkeit als in 2022 – deshalb gefällt mir der Jahrgang beim Riesling in der Breite bisher auch besser als seine Vorgänger. 2023 kann sowohl 2021er Riesling-Freaks als auch Fans des runderen 2018 abholen. Die Einzigartigkeit der 2023er Rieslinge liegt im Akkord aus beeindruckender Dichte, die selten schwer wirkt, glasklarem Terroircharakter und einem Trinkfluss für die Götter. Die höhere Wasserverfügbarkeit der Reben hat vielen Weinen einen schwer in Worte zu fassenden »Fluss« verliehen. Die Besten sind so reich und geschmeidig, dennoch nie fett oder überwältigend, immer freudvoll und saftig. Vor allem im direkten Vergleich mit dem phenolisch-festeren und etwas kargeren Vorjahr 2022, ist das ein Quantensprung in Richtung früher Trinkbarkeit und Gourmetfaktor. Ich kann mir gut vorstellen, dass 2023 sogar bei den großen Weinen für eine längere Zeit offen und zugänglich bleibt. Das gibt dem Jahr potenziell ein riesiges Trinkfenster, denn dank tiefer pH-Werte und großer Balance ist das allemal auch ein Jahrgang für den Keller. In der Spitze sind die 2023er buddhistische Rieslinge. Keines der letzten drei Jahre hatte ein so stimmiges Gesamtbild aus expressiver Frucht, samtig-dichter Textur und perfekt reifen Säuren. 2023 fließt einfach – Hedonismus pur!