Schneller, höher, weiter – oder doch eher:
Dabeisein ist alles

Die olympischen Spiele sind vorbei, die Analysen sind getätigt, die Messe ist gelesen. Und nun interessiert sich wieder vier Jahre lang kaum ein Schwein für Kanu- und Kajakfahren, oder Kunstturnen am Stufenbarren. In hunderten von Jahr- und Gedenkbüchern kann man noch die Medaillenlisten und Trivia nachlesen, bevor sie im Regal neben »WM 2014« verstauben.

Zur etwa gleichen Zeit hat der Chef einen Artikel über Weinkritiker herausgebracht, quasi die Kampfrichter, die über Top oder Flop eines Weines entscheiden, über Goldmedaille oder »ferner liefen«. Und wie nicht anders zu erwarten, gab es ein kleines bis mittleres Gewitter vor allem in der virtuellen Weinwelt, einen Brief von Herrn Priewe und eine Antwort vom Chef.

Und zum Schluss saßen alle wie der gute Reich-Ranicki am Ende des Literarischen Quartetts »… betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen!«.

Und jetzt erzähl ich Euch noch was: Ich behaupte 99 % aller Weinkäufer kennen vielleicht gerade noch den Namen Parker und wenn sie ein wenig italophil sind den Gambero Rosso, den mit den netten Gläschen. Und trotzdem lassen sich alle von Punkten beeindrucken, egal ob die von Meiningers Weinwelt sind oder die Kundensternchen bei Amazon: »Ein sehr guter Wein, den man auch gut verschenken kann – 4 Sterne«, oder: »Für das Geld kriege ich auch einen Spanier mit richtigem Korken und nicht so einem Drehverschluss – 3 Sterne«. Die vielen großen (und alle auf ihre Art guten) Kritiker schreiben für eine klitzekleine, ausgewählte Schar von Freaks, von denen dann auch noch mindestens die Hälfte behauptet, die Punkte gingen ihnen sonst wo vorbei und würden sie kein bisschen beeindrucken, Kritiken müssten sie auch nicht lesen, weil sie ihrem eigenen Geschmack vertrauen könnten. Wer Kritiken liest und sich nach den Wertungen richtet, wird von dieser selbst ernannten Weinelite mit Vokabeln wie Punktetrinker, Etikettentrinker oder gar gleich Angeber benannt.

Die können einem ja richtig leidtun, die Weinkritiker. So viel Arbeit machen sie sich, quälen sich durch hunderte Fassproben und tausende (ich übertreibe nicht) fertige Weine, machen einen Riesenjob mit detaillierten Weinbeschreibungen, rechnen Punkte bis zu zwei Nachkommastellen aus – und für was? »Alles nur für seinen Herrgott«, hieß es einmal in einem Cartoon des grandiosen F. K. Waechter. Er zeigte einen einsamen Akrobaten, der auf einem zwischen zwei Kirchtürmen gespannten Seil balancierte. Es war mitten in der Nacht und niemand schaute zu.

»Der Wein hat 97 Punkte« ist, machen wir uns nichts vor, ein Argument. Die Menschen lieben Sieger, Olympiasieger, Testsieger. Genauso gut könnte es heißen: »Der Wein hat bei Stiftung Warentest ein ›sehr gut‹ bekommen!« Ich möchte mir allerdings nicht vorstellen, wie Stiftung Warentest Weine bewertet, wahrscheinlich gibt es Extrapunkte, wenn die Flasche aus zwei Metern Höhe auf einen Steinboden geworfen nicht zerbricht. Stichwort: Sicherheit!

So nebenbei, wenn Sie meinen, das wäre nur in der Weinwelt so, dann lesen Sie mal zum Spaß in Hifi-Foren, bei Uhren- oder Briefmarkensammlern oder Zigarren-Aficionados.

Für ganz ganz viele Menschen ist Wein allerdings einfach Wein, sowie man auch eine Uhr bei diesem reizenden Gemischtwarenladen mit angeschlossenem Kaffeehandel kaufen kann. Sie machen sich keine großen Gedanken darüber. Der muss eben sonntags zum Braten auf den Tisch, unter der Woche tut’s auch ein Bier. Und ob Rioja eine Rebsorte ist, ein Winzer oder ein Anbaugebiet – geschenkt. Hauptsache er schmeckt, der Rioja. Und mehr als 20 € für einen Wein ausgeben, wieso? Allerdings, so ein Bebberl mit einer Goldmedaille oder ein Anhänger »90 Punkte«, da legt man dann gerne mal ein paar Euro mehr hin.

Für die Liebhaber ist Wein mehr als nur die Summe aus Wasser, Alkohol, Säure, Süße, Phenolen, Tanninen, Schwefel und noch ein paar Elementen mehr. Für die Weinfreaks ist er Genuss, Geselligkeit, Lebensfreude. Große Weine haben ihre ganz eigene Magie, die sich weder in Punkten noch in Sternen ausdrücken lässt. Nur im eigenen Erleben. Und der Preis ist meistens eher zweitrangig. Ein Freund hat es einmal so ausgedrückt: »Ein guter Wein kann immer eine Geschichte erzählen!«

Für den einen wie den anderen sind die Weinkritiker und ihre Beschreibungen notwendige Helfer. Durch ihre Arbeit erfahren wir, wie der Wein schmeckt, wie seine Konsistenz und Textur ist, ob er groß oder eher mittelprächtig ist und ob er zur Rindsroulade oder zum Wokgemüse passen könnte. Schließlich kann niemand erst mal 200 Weine durchprobieren, wenn er eigentlich nur 6 Flaschen kaufen möchte. Da empfiehlt es sich, beim Kritiker seines Vertrauens nachzulesen und sich leiten zu lassen. Gerne auch von einem Verkäufer, selbst wenn der im Beratungsgespräch so nebenbei erwähnt, der Wein habe 90 Punkte. Und hin und wieder sollte man durchaus das Risiko eingehen, einen nicht kritisierten oder nicht top bewerteten Wein zu probieren. Manch einer hat seine Weinliebe erst auf den zweiten oder dritten Blick entdeckt. Schließlich: <link http: www.mundmische.de bedeutung _self>Wat den Eenen sin Uhl, is den Annern sin Nachtigall.

Lustig wird die Sache übrigens erst, wenn sich Kritiker über einen Wein nicht einig sind und der eine das Getränk in den höchsten Tönen lobt und mit Superbewertungen nur so um sich wirft, während der andere sein Grauen kaum noch verbergen kann. Ich erinnere mich noch gut an die Diskussionen über den 2003er Château Pavie. Jancis Robinson beschrieb den Wein als unterirdisch, und lieferte sich mit Robert Parker ein ziemliches Wortgefecht. Robinson hatte dem Wein ganze 12/20 Punkten gegeben, Parker sah ihn nach der ersten Probe bei 95–100/100. Manche unterstellten Mrs. Robinson sogar eine persönliche Animosität gegen Gérard Perse, den Besitzer des Weinguts.

Allerdings, nichts ist langweiliger als Weinkritiken von gestern. Dem Pavie hat die Schlammschlacht nicht großartig geschadet, ich habe ihn damals auch subskribiert und ich weiß bis heute eigentlich gar nicht genau, ob trotz oder wegen dieser Bewertungshistorie. Vor einiger Zeit habe ich die erste Flasche geöffnet (ein ordentlicher Bordeaux bekommt ja immer erst mal so seine 10 Jahre Kellerruhe) und ich fand den Wein großartig. Gebe ihm ganz lieb gemeinte 96 Susannenpunkte (96/100 SP).

Und für den Liebhaber von ordentlichen Riojas für unter 20 € zum sonntäglichen Rinderschmorbraten hab ich auch noch was:

Telmo Rodriguez

2011 Rioja LZ

Der hat alles, was ein anständiger Rioja braucht, vor allem eine wunderbare Verbindung zwischen Kraft und Frucht. Sauerkirschrot funkelt er im Glas und in der Tat, die Sauerkirsche ist so etwas wie sein Leitmotiv. Sie ist das erste Aroma, das aus dem Glas die Nase trifft, und sie ist das erste Aroma, das sich auf die Zunge legt. Weiterhin erschmeckt man feine Beerennoten, zarte Himbeere und kräftig-kratzige Brombeere, ein wenig Pfeffer und einen Hauch von Bitterschokolade. Nach ein wenig Luft im Glas kommen noch herb frische Kräuternoten dazu und eine Anmutung von heißer sonnenverbrannter Erde.

Wem der nicht schmeckt, der ist entweder wirklich elitär oder bleibt besser beim Bier. Die Kritiker sind sich jedenfalls auch ziemlich einig. Der spanische Guía Peñín (das ist quasi der Gambero Rosso von Spanien), der meistens eher zurückhaltend benotet, gibt 93 Punkte, Parker 90, der Chef 92+ und ich gebe 90–91 Susannenpunkte (90–91/100 SP).

Und jetzt Sie! Sie wissen ja: »Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche!« (F. W. Bernstein)
 

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