Mit dem weltweit zu beobachtenden Qualitätsanstieg in der Weinwelt, rückt auch immer wieder das Thema der Bewertungen in den Fokus der Kunden, die bewusst Kontext suchen, um sich innerhalb der vielen Superlative zu orientieren.
Auch in unserem Blog wurde das Thema bereits aufgegriffen, wie z. B. in Heiner Lobenbergs Artikel »Weinbewerter: Qualität und Konstanz?«.
Eine Frage bzw. ein Thema das Kunden immer wieder beschäftigt. So fragt sich auch Matthias H. aus Berlin wie er den Bewertungswald noch durchblicken soll. In einer E-Mail an Heiner Lobenberg sucht er nach Antworten und Orientierung für die Subskription 2016.
Sehr geehrter Herr Lobenberg,
Ich wende mich direkt an Sie, weil ich hinsichtlich der Bordeaux 2016 etwas ratlos bin. Bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich vielleicht etwas zu direkt bin.
Vorab vielen Dank für den umfangreichen Subskriptions-Katalog.
Seit bald 25 Jahre subskribiere ich Bordeaux, aber es fällt mir von Jahr zu Jahr schwerer, die richtigen Weine für mich auszuwählen. Dies liegt weniger an der Auswahl oder meiner diffusen Geschmacksentwicklung, als vielmehr (nach meiner Ansicht) an den Bewertungen, die sich von Jahr zu Jahr zu übertreffen versuchen (Die alte Geschichte: »… Jahrhundertjahrgang …« »… best ever …«). Inzwischen sind die Bewertungen für mich nicht mehr brauchbar – man jeden Wein kaufen, weil jeder eine Hammerwein sein soll, so überschwänglich sind die Lobgesänge. Kollege Gerstl schießt dabei wie immer den Vogel ab. Meine Frau und ich saßen am letzten Wochenende (bei einer Flasche Robert Weil) und haben aus Ihrem Katalog rezitiert. Wir haben uns köstlich amüsiert. Es hatte fast etwas Kinski-haftes – würde er noch leben, man könnte locker 20 Lesungen damit füllen.
Mit diesem leichten Spott kann ich gut leben. Mehr noch, ich kann Ihnen folgen und Sie verstehen. Das Dilemma besteht darin, in einem Jahrgang, den ich weder in Deutschland noch in Bordeaux jemals zuvor in solch hoher Qualität verkostet habe, die richtigen Relationen, Abstände und Punkt-Höhen zu finden. Entweder greife ich einen eigenen Vorschlag auf und mache aus der 100-Punkte-Skala eine nach oben offene Skala (wie die offene Richterskala bei Erdbeben) oder ich werde dem Jahrgang in der Rückwärtsbetrachtung und im Vergleich mit früheren Jahren nicht gerecht, wenn ich das Punkte-Niveau auf den Höhen meiner Lehrjahre 1982 bis 1997 belasse. Ab 1998 begannen die Qualitäten sich explosionsartig zu verbessern. Was tun? Sich jedes neue große Jahr wieder runteratmen auf Normal-Null? Wie macht man dann ganz deutlich, dass 2016 eben dramatisch besser ist als die doch wunderschönen, auch sehr gut bewerteten Jahrgänge 2008 und 2012? Und deutlich besser nochmal als 2005 ... Eine echte Crux! Natürlich empfinde ich heute in Bordeaux 2016 nicht alle 100-Punkte-Weine als gleichwertig (es gibt eben keine absoluten Punkte). Je nach gewünschtem Trinkzeitpunkt und Genussbeginn, und je nach finanzieller Ausstattung und Möglichkeit, würde ich schon unterschiedliche Weine empfehlen. (Also doch nach oben offene Skala? Die nach oben offene Lobenberg-Skala? Das hat was ... dann könnte ich wieder klarere Hierarchien innerhalb der himmlischen Qualitäten machen, und dennoch wie 2002 und 2013 wieder zurück zu 85 bis 90 Punkten). Was sicher ist, KEINER der von mir ausgesuchten und angebotenen 2016er ist ein Loser. Fast jeder Wein gehört zum Besten was das jeweilige Château je gemacht hat. In soweit können Sie im Jahrgang 2016 keinen Fehler bei der Auswahl machen.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich schätze Ihr Engagement für den Wein und habe Sie oft als Quelle für meine Bordeaux nutzen können. Aber wie bereits erwähnt wird es zunehmend schwieriger für mich zu entscheiden, welche Weine denn in meinen Keller passen.
Ich versuche ganz bewusst und mit voller Absicht mich textlich weit zu outen, mich neben Emotionen ganz besonders auch auf Aromen und Geschmackseindrücke von Frucht, Säure und Tannin zu fokussieren, dass Sie auch OHNE PUNKTE einen Eindruck haben können. Und ich nenne und drucke zusätzlich Bewertungen und vor allem Texte (im Internet sogar noch mehr Bewertungstexte als im mengenmäßig limitierten Druck) anderer internationaler Verkoster, die Ihnen helfen sollen Ihren Eindruck abzurunden und darin nicht nur auf mich angewiesen zu sein.
Mir ist bewußt, daß Sie nicht jeden Kunden einzeln beatmen können, trotzdem die Bitte, ob Sie mir etwas empfehlen können.
Mein Geschmack kurz zusammengefaßt:
Ich brauche keine trinkfertigen Weine, die innerhalb von 6 Monaten nach der Lieferung getrunken werden sollen. Ein ordentlicher Bordeaux kann gerne 10–15 Jahre (oder länger) im Keller verschwinden.
Eindimensionale Wuchtwummen à la Australien mit Campino Fruchtbonbon-Geschmack und 14,5 % Alkohol sind mir zuwider. Es darf gerne elegant und komplex sein (nein, das MUSS es sogar!) – Back to the roots!
Das gibt es 2016 im Grunde überhaupt nicht. Das war eher 2009 auf dem rechten Ufer so, vereinzelt auch 2010 und 2015. 2005 und 2016 sind elegant und komplex, fern jeder Marmelade und übermäßiger Wucht, dabei 2016 sowohl reifer im Tannin und zugleich leichter im Alkohol. Elegant und leichtfüßig, dabei hochkomplex. Was soll ich sagen wenn es doch einfach so gut ist?
Das ist auch gerade 2016 kein Nachteil, denn auch auf dem linken Ufer sind die Tannine trotz frischer Säuren sehr reif, die Weine haben, trotz klar niedriger Alkoholwerte als in Vergleichsjahren und als auf dem rechten Ufer, ein tolles Volumen und deutliche, reife Frucht. Nie zuvor gab es bessere Cabernets als 2016.
Tendenziell lieber etwas weniger Alkoholgehalt (das wäre z. B. eine Information, die ich in einer Bewertungen als grobe Orientierung für hilfreich erachten würde).
2016 hat durch die Bank im Schnitt 1 Prozenpunkt weniger Alkohol als 2015, 2010 und 2009. Oft, und gerade auf dem von Ihnen geschätzten linken Ufer, nur zwischen 12,5 und 13,5 %. Exaktere Angaben als diese generelle Tendenz macht so früh bei der Probe leider kein Château.
Jüngere Bordeaux-Jahrgänge (nach 2007) habe ich zwar im Keller, aber noch nicht geöffnet. Ich kann also schwer etwas zu aktuellen Tendenzen einzelner Châteaux sagen, um daran meine Entscheidung auszurichte.
Um Ihnen eine Idee zu geben, nachfolgend einige Weine, die bei mir einen ordentlichen Eindruck hinterlassen haben:
Ch. Gazin 1990
Meine Empfehlung dazu 2016: Clinet / Vieux Château Certan / Certan de May / Figeac / günstiger La Croix / Beauregard / Fonroque
Ch. Lynches-Bages 1990 und Ch. Pichon Comtesse 1982, 1996
Meine Empfehlung dazu 2016: Lynch Bages / Pichon Comtesse / Grand-Puy-Lacoste / Pontet-Canet / Duhart Milon / Lafite Rothschild wenn Geld egal ist ...
Ch. Gruaude Larose 2000
Meine Empfehlung dazu 2016: Gruaud Larose / Léoville Poyferré / Branaire-Ducru / Giscours
Ch. Ducru Beaucaillou 1996
Meine Empfehlung dazu 2016: Leoville Las Cases / Ducru-Beaucaillou / Palmer
Man kann nicht jeden Tag eine Granate aus dem Keller zerren; Es braucht auch die Weine »für zwischendurch«, aber auch für vergleichsweise wenig Geld bekommt man ordentliche klassische Weine abseits des Mainstreams. Deshalb war meine Philosophie bisher eine ordentliche Mischung aus einigen Ausnahme- und »Alltagsweinen«.
Ich bin mal jenseits der Punkte so verwegen und sage Ihnen unten stehend Appellation für Appellation meine 1–2 persönlichen Highlights und Ausnahmeweine, meinen Achtungserfolg, und meine 1–2 besten, günstigsten Alltagsweine. Alles unter Ihrer Prämisse: ›Es darf gerne elegant und komplex sein (nein, das MUSS es sogar!) – Back to the roots!‹
Ich hoffe, ich bin Ihnen mit meinen epischen Ausführungen nicht zu nahe getreten und würde mich sehr über Ihr Feedback und einen individuellen Vorschlag ob des Jahrgangs 2016 freuen.
Im Gegenteil, ich habe mich sehr gefreut über Ihren Brief. Es macht mir Freude mich darauf einzulassen. Sie nötigen mich im positiven Sinn, mich mit der generellen Bewertungsproblematik auseinanderzusetzen und mir den Jahrgang 2016 noch einmal, Revue passierend, Wein für Wein auf der Zunge zergehen zu lassen. Ich danke Ihnen!
Ausnahmeweine, besondere Achtungserfolge des Mittelfeldes und Alltagsweine nach Appellationen. Eine spontane, emotionale ›Best of‹-Auswahl unter der Prämisse der Eleganz und Komplexität, nicht nach Punkten.
Appellation Saint-Estèphe
Ausnahme: Cos d’Estournel (der größte, endlich feine, komplexeste Cos aller Zeiten)
Alltagswein: Meyney, Le Boscq
Achtungserfolg: Montrose, Lafon-Rochet
Appellation Pauillac
Ausnahme: Pichon Comtesse, Pontet-Canet, Lafite Rothschild
Alltagswein: Haut-Bages Libéral für den wohlhabenden Alltag
Achtungserfolg: Grand-Puy-Lacoste
Appellation Saint-Julien
Ausnahme: Leoville Las Cases (unsterblich), Ducru-Beaucaillou
Alltagswein: La Bridane
Achtungerfolg: Léoville Poyferré, Branaire-Ducru und Gruaud Larose
Appellation Margaux
Ausnahme: Margaux (bester Wein des Jahres, fast reiner Cabernet), Palmer
Alltagswein: Deyrem Valentin
Achtungserfolg: Giscours und Malescot St. Exupery
Appellation Pessac-Léognan
Ausnahme: La Mission Haut-Brion (großer Klassiker), Haut-Bailly (best best ever)
Alltagswein: l’Angelot de Seguin, Pontac Monplaisir
Achtungserfolg: Seguin, Smith Haut Lafitte, Domaine de Chevalier
Appellation Haut-Médoc
Ausnahme: Clos Manou
Alltagswein: Charmail, Haut-Maurac, Du Retout
Achtungserfolg: Carmenère
Appellation Côtes de Bourg / Côtes de Francs
Ausnahme: Roc de Cambes
Alltagswein: Puygueraud
Achtungerfolg: Domaine de Cambes (untere Hänge von Roc de Cambes)
Appellation Fronsac
Ausnahme: Moulin Haut Laroque (zugleich Alltagswein :D)
Alltagswein: Tour du Moulin
Appellation Côtes de Castillon
Ausnahme: Clos Louie (leider ausverkauft)
Alltagswein: Peyrou, Louison & Leopoldine
Achtungserfolg: Domaine de L’A, Clos Puy Arnaud
Appellation Saint-Émilion
Ausnahme: Figeac, Beauséjour Duffau, Tertre Roteboeuf
Alltagswein: Gaillard, Amélisse, Le Sacre, Teyssier, (de Pressac, Tour Perey für den wohlhabenden Alltag)
Achtungserfolg: Jean Faure, Tertre de la Mouleyre, Pavie Macquin
Appellation Pomerol
Ausnahme: Vieux Château Certan, Clinet, Evangile
Alltagswein: Haut-Musset (La Patache und La Rose Figeac bei wohlhabendem Alltag)
Achtungserfolg: Clos de la Vieille Eglise, Certan de May